Neue Wege gegen Obdachlosigkeit

Spätestens mit dem Wintereinbruch ist die Problematik der Obdachlosigkeit wieder akut. Das zeigte auch die Räumung des Wiener Stadtparks im Oktober. Notschlafstellen gibt es zu wenige. Doch einige Initiativen zeigen, dass neue Ansätze erfolgreich sein können.

Genaue Zahlen, wie viele Menschen in Österreich auf der Straße leben, liegen laut Caritas nicht vor. Die letzte österreichweite Erhebung stammt aus dem Jahre 2006 und ist nicht repräsentativ. Tatsache ist, dass viel mehr Männer als Frauen auf der Straße leben, nur 20 Prozent sind Frauen. Sie leben oft in „verdeckter Obdachlosigkeit“, indem sie „Zweckbeziehungen“ eingehen, um einen Schlafplatz zu bekommen. Ein Drittel aller Obdachlosen ist unter 30 Jahre alt.

Zuerst Wohnung, dann Sozialarbeit

Sechs Jahre ohne Wohnung, ohne Strom, ohne fließendes Wasser: Johann L. fällt unter den Begriff „Sleeping Rough“, er ist Langzeitobdachloser. Es sind Menschen, für die die Rückkehr in eine Wohnung schwer bis unmöglich erscheint, zu hoch sind die alltäglichen Hürden, zu niederschmetternd die Behördengänge, zu groß die Gefahr einer neuerlichen Delogierung. Doch L. lebt seit einem Jahr wieder in einer kleinen Wohnung in Salzburg. Er war einer der ersten Klienten des Projekts Housing First in Salzburg.

TV-Hinweis

Die Reportage „Neue Wege in der Arbeit gegen Obdachlosigkeit“ ist am Mittwoch um 19.45 Uhr im ZIB-Magazin in ORFeins zu sehen.

„So, wie der Mensch ist, wird er abgeholt und in die Wohnung hineinbegleitet“, sagt Anton Waltl. Er ist Soziologe, Sozialarbeiter und Leiter des Projekts Housing First. „Bei anderen Projekten müssen Langzeitobdachlose in einem Stufenmodell nachweisen, dass sie die Fähigkeiten besitzen, Wohnraum zu erhalten. Bei Housing First ist es genau umgekehrt: Am Anfang steht die Wohnung, erst dann kommt die Sozialarbeit“, so Waltl.

Erfolgreich zurück ins „normale“ Leben

Dieser Tage feiert das Projekt in Salzburg seinen ersten Geburtstag – mit Erfolg: Die 16 langzeitobdachlosen Menschen, die in Wohnungen begleitet wurden, haben alle den Sprung zurück geschafft. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von Pfarrer Wolfgang Pucher. Er hat dafür den mit einer Million dotierten Essl-Preis gewonnen und so das Projekt starten können - mehr dazu in steiermark.ORF.at und in religion.ORF.at.

Größte Laienorganisation der Welt

Entstanden war Housing First durch die Initiative der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg in Graz. Vinzenzgemeinschaften sind christliche Laienorganisationen, die sich um Menschen in Not kümmern. Weltweit gibt es mehr als eine Million aktiver Mitglieder, damit sind die Vinzenzgemeinschaften die größte Laienorganisation der Welt. Allein in Graz helfen 500 ehrenamtliche Mitarbeiter. „Der Mensch in Not ist uns ein Anliegen“, so Nora Musenbichler, Koordinatorin der VinziWerke Österreich.

„Und wenn jemand Hilfe braucht, und es gibt keine Einrichtung, dann werden wir eine schaffen, dann werden wir einen Platz für ihn schaffen.“ Niederschwellig, gratis, respektvoll ist der Ansatz der Vinzi-Angebote. „Ziel der VinziWerke ist es, dass kein Mensch in Österreich auf der Straße leben muss“, sagt Musenbichler.

Ambulanz ohne Bürokratie

Auf die Unterstützung von Ehrenamtlichen baut auch der Louisebus, die mobile Ambulanz der Caritas, die montags bis freitags in Wien unterwegs ist. Ohne Krankenschein und gratis erhält man medizinische Betreuung. 2.600 Menschen werden pro Jahr von den Ärztinnen und Ärzten des Louisebusses behandelt, viele kommen mehrmals. 9.500 Behandlungen pro Jahr werden vorgenommen, Tendenz steigend.

Medizinischer Betreuungsbus der Caritas

ORF

Zehn Ärzte und mehr als 40 ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiten mit

Grippe und Erkältungen durch das Leben auf der Straße, kaputte Hüften, schmerzende Zähne: Immer wieder kommen Patienten, die ihr Leben lang in Österreich gearbeitet haben, aber vom Arbeitgeber nicht gemeldet wurden und damit keinen Anspruch auf Krankenversicherung haben.

„Jetzt gibt’s zum Glück in einigen Spitälern einen Sozialfonds, wo es Behandlungsmöglichkeit für unsere Patienten gibt“, so die Allgemeinmedizinerin Kerstin Schallaböck. Sie arbeitet seit sieben Jahren beim Louise-Bus. Berührungsängste kennt sie keine: "Ich gehe jeden Tag gerne hin und würde auch sofort aufhören, wenn sich das ändert. Das ist wichtig, dass die Patienten auch mitkriegen, dass man sie gerne behandelt.“

Gemeinsam leben in VinziRast-Haus

Ein Haus in Wien voller Wohngemeinschaften, in denen Studierende und Ex-Obdachlose zusammenleben: Das war die Idee, die Cecily Corti im Mai dieses Jahres umgesetzt hat. „VinziRast mittendrin“ heißt das Haus in der Währinger Straße. Es besteht aus zehn WGs, die Bewohner sind zur Hälfte Studierende, zur Hälfte Menschen, die bis vor kurzem auf der Straße gelebt haben.

Vinzirast

APA/Herbert Neubauer

Im Frühjahr wurde das VinziRast-Haus eröffnet

Im Erdgeschoß des Gebäudes befindet sich ein Gasthaus, in dem die Bewohner auch mitarbeiten. „Man sieht Menschen in verschiedensten Lebenslagen“, beschreibt Magdalena ihr Leben in der WG. „Das finde ich wahnsinnig gut, weil man manchmal glaubt, die eigenen Bedürfnisse entsprechen auch den Bedürfnissen der anderen.“

Ländergrenzen als Barrieren

Wohnungslosenhilfe ist in Österreich Ländersache. Das bedeutet, dass Hilfsorganisationen, die vom Staat subventioniert werden, in der Regel nur für Bedürftige aus ihrem Bundesland zuständig sind. Bricht sich etwa ein Salzburger in Wien den Arm, dann wird er auch in einem Wiener Krankenhaus behandelt. Steht allerdings ein Salzburger in Wien auf der Straße, dann müssten ihn die meisten Wiener Notschlafstellen zumindest im Sommer abweisen. Kein Bundesland möchte die Kosten für ein anderes mittragen.

Lediglich in Wien gilt in der kalten Jahreszeit das Winterpaket der Stadt. Im Rahmen dieses Pakets werden die verschiedensten Notquartiere dieser Tage laufend aufgestockt, so dass zumindest im Winter kein Mensch unversorgt auf der Straße stehen soll, ganz egal, ob er aus Salzburg, aus dem Burgenland, aus Ungarn oder aus Deutschland stammt.

Hilfsorganisationen sind aber überzeugt, dass Obdachlosigkeit ein Thema ist, das die Gesellschaft an 365 Tagen im Jahr betrifft. Obdachlosigkeit halte sich nicht an Bundesländergrenzen. Hier seien künftig eine bessere Abstimmung und eine solidarische Finanzierung zwischen den einzelnen Ländern sinnvoll, fordern Experten.

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