RH für weniger Schulversuche
Der RH spricht von einer „ausgedehnten Schulversuchslandschaft“: Insgesamt wurden 2012/13 5.367 Schulversuche an 2.900 Standorten durchgeführt (an einem Standort können auch mehrere Schulversuche durchgeführt werden, Anm.). Am beliebtesten waren dabei Versuche zur alternativen Leistungsbeurteilung (2.026, vor allem an Volksschulen), zur Matura (797, vor allem an AHS) sowie zu Lehrplänen (478) und Prüfungsordnungen (287) im berufsbildenden Bereich. Durch die Übernahme der Zentralmatura an AHS in das Regelschulwesen in diesem Schuljahr sind aber mittlerweile zahlreiche Versuche weggefallen.
Fehlende rechtliche Vorgaben
Als Grund für die häufige Einrichtung von Schulversuchen macht der RH fehlende bzw. starre rechtliche Vorgaben aus. So mussten etwa Berufsschulen Schulversuche anmelden, um Freigegenstände einzurichten, oder Tourismusschulen auf Versuche zur Verlegung der Schulzeit zurückgreifen, um Betriebspraktika in der Wintersaison zu ermöglichen. Der RH empfiehlt daher einen Ausbau der Schulautonomie.
Erprobungszeit teilweise weit überschritten
Kritik übte der RH auch daran, dass zahlreiche Schulversuche ihre Erprobungszeit schon weit überschritten hatten und damit ihren eigentlichen Zweck - die Erprobung von bestimmten Maßnahmen - nicht mehr erfüllen. Die ersten Versuche zur alternativen Leistungsbeurteilung sind bereits 50 Jahre alt, jene zum Ethikunterricht immerhin schon 17 Jahre. Der RH rät daher entweder zur Übernahme ins Regelschulwesen oder zur Beendigung.
Viele nicht wissenschaftlich evaluiert
Gleichzeitig bemängeln die Prüfer, dass viele Schulversuche nicht wissenschaftlich evaluiert bzw. zum Teil - wie etwa beim Ethikunterricht - Alternativvarianten gar nicht erprobt würden. Umgekehrt wurden aber Versuche wie etwa jene zur neuen Mittelschule (NMS) oder zur Zentralmatura ohne vorherige Evaluation ins Regelschulwesen übernommen.
APA
Der Grund dafür könnte in einer Art Zweiteilung der Schulversuchsvarianten liegen: Einerseits gebe es vom Bildungsministerium initiierte und zu erprobende Schulmodelle mit eigener gesetzlicher Regelung („Top-down-Schulversuche“) wie die Neue Mittelschule, die Modularisierung der Oberstufe oder die Zentralmatura, mit denen ohnehin schon beschlossene Maßnahmen erprobt werden, und andererseits Schulversuche, die auf Initiative der Schule bzw. der Landesschulräte laufen (Bottom-up-Schulversuche).
Ministerium fehlt Übersicht
Als weiteres Problem ortete der RH, dass das Bildungsministerium auch aufgrund der „Komplexität und Vielschichtigkeit des österreichischen Schulwesens“ keine österreichweite Übersicht über alle Schulversuche habe. Das führt auch dazu, dass die Regelungen über die gesetzlich vorgegebenen Höchstgrenzen für die Anzahl von Schulversuchen nicht kontrolliert werden konnten und etwa bei den Versuchen zur alternativen Beurteilung überschritten wurden.
Blockade von ÖVP und SPÖ
Der Grund für die ausufernden Versuche ist nicht zuletzt die jahrzehntelange Blockade von ÖVP und SPÖ in Sachen Schule: Schulgesetze konnten bis vor wenigen Jahren nur mit Zweidrittelmehrheit im Nationalrat geändert werden und sind zudem oft sehr eng gefasst. Die Einrichtung von Integrationsklassen, Änderungen bei der Anzahl oder Dauer von Schularbeiten oder einfach nur der Unterricht von Französisch statt Latein in der dritten Klasse Gymnasium war jahrelang nur als Schulversuch möglich.
„Trachtenklasse“, Ethik und Ballett-Realgymnasium
Noch heute bedarf es eines Schulversuchs, wenn Kinder in der ersten Klasse Volksschule anders als mit Noten beurteilt werden sollen (etwa verbal, mit Pensenbüchern oder Portfolios). Die verbale Beurteilung ist auch der wahrscheinlich älteste noch laufende Schulversuch: 2016 feiert er sein 50-Jahr-Jubiläum. Mitte der 1970er Jahre kamen dann weitere Formen der alternativen Beurteilung dazu.
Seit den 1990er Jahren laufen Versuche zu bilingualen Volksschulen und Gymnasien, seit 17 Jahren zum Ethikunterricht für jene Schüler, die keinen Religionsunterricht besuchen, seit zwölf Jahren gibt es E-Learning in Notebook-Klassen. Schulversuche gibt es aber auch, um „spezielle Bedürfnisse von bestimmten Zielgruppen“ abzudecken, wie es der RH nennt: Seit 1980 gibt es schon den Versuch „Realgymnasium für SchülerInnen der Ballettschule der Wiener Staatsoper“, am Liese-Prokop-Oberstufenrealgymnasium für Hochleistungssportler dauert etwa die Oberstufe fünf statt vier Jahre.
Außerdem werden Schulversuche eingerichtet, um etwa bestimmte Maßnahmen wie Biologieschularbeiten oder Schularbeiten mit dem Laptop rechtlich abzusichern bzw. wegen der Nichteinigung mit Standesvertretern fehlende Prüfungsordnungen und Lehrpläne zu ersetzen. Es gibt aber auch Beispiele für Schulversuche, die ins Regelschulwesen übernommen wurden: Prominenteste Beispiele sind etwa die Neue Mittelschule, die Zentralmatura an AHS, die zweite lebende Fremdsprache ab der dritten Klasse Gymnasium (statt Latein) oder die Einführung von Integrationsklassen. Nach 48 Jahren im Versuchsstadium schaffte es schließlich auch die „Trachtenklasse“ am Annahof in Salzburg: Der Lehrgang für Trachtenschneiderei wurde 1993 ins Regelschulwesen übernommen.