Straße mit Menschen
Getty Images/olaser
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Politik

Fast 1,5 Mio. Menschen armutsgefährdet

2019 waren laut Statistik Austria 1.472.000 Menschen (16,9 Prozent der Bevölkerung) in Österreich armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Merkmale dieser Gruppe sind Einkommensarmut, erhebliche materielle Einschränkungen oder geringe Erwerbseinbindung. Gegenüber 2018 zeigt sich nur eine geringe Verringerung der Zahl.

Damals waren es 1.512.000 Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdete (17,5 Prozent). Längerfristig könne aus der Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (European Union Statistics on Income and Living Conditions, EU-SILC) jedoch eine Reduktion der von Armut oder sozialer Ausgrenzung Betroffenen um 227.000 Personen seit 2008 abgelesen werden, teilte sie Statistik Austria am Donnerstag mit.

Damit erreichte Österreich mit einem Jahr Verspätung annähernd das Ziel der Armutsreduktion um 235.000 Personen innerhalb von zehn Jahren. Dieses wurde im Rahmen der Europa-2020-Strategie formuliert.

303.000 Kinder von sozialer Teilhabe ausgeschlossen

In Haushalten mit Ausgrenzungsgefährdung lebten 2019 auch 303.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Sie waren dadurch in vielen Bereichen von sozialer Teilhabe ausgeschlossen. Wie Daten des EU-SILC-Sondermoduls 2019 zeigen, gibt es vor allem im Bereich der Bildung auch Übertragungseffekte zwischen den Generationen.

Rund jede vierte Person (27 Prozent) aus einer formal bildungsfernen Familie (Eltern mit höchstens Pflichtschulbildung) hat später selbst nur eine Pflichtschule absolviert und damit eine höhere Wahrscheinlichkeit für geringes Einkommen und mangelnde Teilhabechancen. Demgegenüber beträgt die Pflichtschulquote nur sechs Prozent, wenn zumindest ein Elternteil einen höheren Abschluss erreicht hat.

Das Risiko, Armut und soziale Ausgrenzung zu erfahren, ist für Personen aus bildungsfernen Familien um das 1,4-fache höher als für alle übrigen.

Mehrere Faktoren spielen zusammen

Von den fast 1,5 Millionen Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten in Österreich waren 1.161.000 Personen armutsgefährdet, 223.000 Personen erheblich materiell benachteiligt und 507.000 Personen unter 60 lebten in Haushalten mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität.

Da diese Merkmale in Kombination auftreten können, ist die Zahl der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten geringer als die Summe der drei Einzelindikatoren.

Ein Fünftel der Betroffenen sind Kinder

Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren machten im Jahr 2019 etwas mehr als ein Fünftel aller Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten aus. Das Risiko sozialer Ausgrenzung lag für diese Altersgruppe mit 19 Prozent über dem der Gesamtbevölkerung.

Wie EU-SILC 2019-Daten zeigen, gelten 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, in deren Haushalten eine Person langzeitarbeitslos ist, als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Auch wenn Sozialleistungen die hauptsächliche Einkommensquelle darstellen, oder eine Person im Erwerbsalter eine Behinderung aufweist, ist eine erhöhte Armutsbetroffenheit bei Kindern und Jugendlichen festzustellen.

Das Aufwachsen in einem Haushalt mit geringem Einkommen oder Erwerbslosigkeit ist oft mit mangelnder sozialer Teilhabe für diese Kinder und Jugendlichen verbunden. Für Kinder bis 15 Jahren aus armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Haushalten ist es häufiger nicht leistbar, Freunde zum Spielen oder Essen einzuladen (acht Prozent gegenüber zwei Prozent in Haushalten ohne Ausgrenzungsgefährdung). Andere Freizeitaktivitäten wie Sport- oder Musikkurse, die mit Kosten verbunden sind, können ebenfalls seltener in Anspruch genommen werden.

22 Prozent der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten können sich das für ihre Kinder nicht leisten. Aus finanziellen Gründen keinen PC im Haushalt haben 36 Prozent aller unter 18-jährigen Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten, aber nur 10 Prozent aller anderen Jugendlichen.

Benachteiligungen übertragen sich

Das Sondermodul zur Erhebung EU-SILC 2019 hat sich schwerpunktmäßig der Frage gewidmet, inwiefern Benachteiligungen, die bereits im Elternhaushalt vorliegen, auf die nächste Generation übertragen werden. Die ökonomische Situation des Elternhaushalts bestimmt die aktuellen Lebensbedingungen der Kinder, aber auch ihre Zukunftschancen. 41 Prozent aller Zehn- bis 14-Jährigen aus nicht-ausgrenzungsgefährdeten Haushalten besuchen eine AHS-Unterstufe, hingegen nur 23 Prozent aus armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Haushalten.

Der Besuch einer Hauptschule oder NMS ist für Jugendliche aus Haushalten mit Armutsbetroffenheit wesentlich wahrscheinlicher (76 Prozent) als für jene ohne Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung (57). Regionale Unterschiede bei der Schulwahl sind zwar zu berücksichtigen, können das eindeutige Bild der frühen sozialen Selektion jedoch nicht aufheben.

Bildungshintergrund bestimmt Bildungschancen

Bildungschancen werden laut Statistik Austria nicht nur durch das Einkommen der Eltern, sondern auch durch deren Bildungshintergrund bestimmt. Bei Erwachsenen zwischen 25 und 59 Jahren sieht man einen deutlichen Zusammenhang zwischen ihrem aktuellen Bildungsstand und dem Bildungsstand ihrer Eltern, als sie selbst 14 Jahre alt waren.

Auf den aktuellen Lebensstandard hat das Bildungsniveau der Eltern ebenso Einfluss: Es ergibt sich ein Armuts- und Ausgrenzungsrisiko von 21 Prozent für Personen aus bildungsfernen Elternhäusern (Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss) gegenüber 15 Prozent für Erwachsene mit Eltern, die einen weiterführenden Abschluss erreicht haben. Bedingungen wie eigene Erwerbstätigkeit und Qualifikation usw. dürfen dabei als erklärende Faktoren natürlich nicht außer Acht gelassen werden – dass diese ihrerseits in Abhängigkeit von sozialen Herkunftsfaktoren stehen, legen die Daten jedoch zumindest für die Bildung nahe, schreibt die Statistik Austria.

Anschober: Nationale Strategie zur Armutsvermeidung

Sozial- und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hat am Donnerstag zwar positiv darauf reagiert, dass die österreichischen Zahlen der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten unter dem EU-Durchschnitt von 2018 liegen. Wegen der wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Krise warnte er jedoch auch vor einer sozialen Krise.

„Eine im internationalen Vergleich niedrigere Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdungsquote ändert nichts daran, dass rund 1,5 Millionen Menschen in Österreich in ihrer sozialen Teilhabe massiv eingeschränkt sind“, so Anschober. Daher seien im Regierungsprogramm zahlreiche Maßnahmen verankert, die zielgerichtet Unterstützung gewährleisten und soziale Notsituationen abfedern sollen.

Mit einer „Nationalen Strategie zur Armutsvermeidung“ will Anschober vermeiden, dass Menschen durch die sozialen Folgen der CoV-Krise in die Armutsfalle abdriften. Aus der Gesundheitskrise dürfe keine soziale Krise werden, betonte Anschober.

Weil Kinder und Jugendliche im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportional von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung betroffen sind, will der Minister bei seiner Strategie einen besonderen Schwerpunkt auf Kindergesundheit bzw. auf die Reduktion von Kinderarmut legen. Eine Taskforce dazu sei bereits eingerichtet worden, so Anschober, denn: „Kinder sind die Zukunft unseres Landes.“

Coronavirus könnte Situation verschärfen

Die Armutskonferenz sieht als Reaktion auf die aktuellen Zahlen zur Armutsgefährdung der Statistik Austria vor allem in vier Bereichen große Herausforderungen. Effektive Hilfen brauche es etwa bei Kinderarmut, älteren Arbeitslosen, Altersarmut und chronischen Erkrankungen, teilte das Netzwerk aus Hilfsorganisationen mit. Wichtig seien vor allem Sozialleistungen und ein starker Sozialstaat.

„Für die ärmsten Kinder will man in einem der reichsten Länder der Welt offenbar kaum Ressourcen zur Verfügung stellen“, mahnte Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich. „Gerade vor dem Hintergrund der Corona-Krise sind diese Zahlen alarmierend. Wenn die Regierung Kinderarmut halbieren will, braucht es jetzt Maßnahmen. Unsere Kindergrundsicherung ist ein erprobtes Modell, wir laden die Politik ein, sich von unseren Erfahrungen im Projekt zu überzeugen“, sagte Fenninger in Richtung Regierung.

Caritas-Direktor Michael Landau bezeichnete den Rückgang der Armut in Österreich seit dem Vorjahr als „erfreulich“ und ein „Ausdruck dafür, wie wichtig ein funktionierender Sozialstaat für die Menschen in unserem Land ist“. Allerdings: „Die Daten stammen aus der Vor-Corona-Zeit“, so Landau. Nicht erfasst seien all jene Menschen, die sich in den vergangenen Wochen an Hilfsorganisationen wie die Caritas gewandt haben, weil sie dringend Hilfe brauchen. „Darunter auch sehr viele Menschen, die noch nie auf die Hilfe der Caritas angewiesen waren.“