Kreißsaal
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GESUNDHEIT

Gewalterfahrungen im Kreißsaal

Während der Geburt fühlen sich viele Frauen als Opfer körperlicher und psychischer Gewalt in Form von unangekündigten, schmerzhaften Handgriffen an ihrem Unterleib und von Demütigungen. Beklagt wird fehlende Aufklärung. Auch medizinisch umstritten ist der „Kristeller-Handgriff“.

Zwischen 82.000 und 86.000 Kinder kommen in Österreich jährlich zur Welt, 98,5 Prozent davon in einem Krankenhaus. Erhebungen dazu, wie viele Frauen während der Geburt Gewalterfahrungen im Kreißsaal machen, gibt es nicht. Auch die subjektive Wahrnehmung spielt eine große Rolle. Oft beschreiben Frauen aber große Schmerzen während des „Kristeller-Handgriffes“. Dabei drückt ein Arzt, eine Ärztin oder Hebamme während der Presswehe auf den Oberbauch, um die Geburt des Kindes zu beschleunigen.

Peter Husslein leitete früher die größte Geburtenstation Österreichs am Wiener AKH. Seine Forschung beeinflusst, wie Babys hier geboren werden: „Wir haben mit einer Studie an der Klinik versucht herauszufinden, ob der ‚Kristeller-Handgriff‘ grundsätzlich sinnvoll ist, und da war die Antwort ganz klar: Nein.“

Gewalt im Kreißsaal

„Niemand hat mit mir gesprochen. Man hat mir meine Beine mit einem Gurt festgeschnallt und als Nächstes fest auf meinen Bauch gedrückt.“ So schildert Veronika Konrad die Geburt ihres Sohnes. Geburtsschmerz kannte sie bereits von ihrem ersten Kind, doch was bei ihrer zweiten Niederkunft passierte, interpretiert sie als Gewalt. Frauen trauen sich vermehrt, Demütigungen und Machtmissbrauch durch Hebammen sowie Ärzte und Ärztinnen im Kreißsaal offen anzusprechen. Die Hebamme Margarete Wana hat die Initiative „Roses Revolution Österreich“ gegründet und will damit physische und psychische Gewalterfahrungen von Frauen während der Geburt aufzeigen.

„Kristeller-Handgriff" hat Tradition

Bis in die 90er Jahre wurde der Handgriff, der bereits 1867 vom deutschen Gynäkologen Samuel Kristeller entwickelt wurde, bei fast einem Viertel aller Geburten nach dem Motto „Schneller mit Kristeller“ routinemäßig eingesetzt. „Es ist keine Frage, dass es für eine Frau einen körperlichen Übergriff darstellt, wenn sich jemand an den Kopf des Bettes stellt und, ohne etwas zu erklären, massiv auf den Oberbauch drückt“, so Husslein gegenüber „Thema“ und dem „ZIB-Magazin“. Es könne natürlich zu Geburtsverletzungen führen, weil der Kopf nicht langsam, sondern rasch die Weichteile, die Scheide und die Vulva aufdehne.

Gewalt im Kreißsaal

Die Geburt eines Kindes – für die meisten Frauen ist das schon an sich ein gewaltiges Erlebnis. Problematisch wird es aber dann, wenn bei der Geburt Grenzen überschritten werden, nämlich durch Machtmissbrauch, demütigende Sprüche oder übergriffiges Verhalten durch das Krankenhauspersonal. Die Wienerin Andrea Nikowitz hat das bei ihrer ersten Geburt erlebt.

Verbindliche Bedingungen für Anwendung

Der Nutzen ist wissenschaftlich umstritten und das Risiko von Verletzungen hoch. Im Großbritannien und Norwegen werde der „Kristeller-Handgriff“ nicht angewendet, in Deutschland hätten ihn einzelne Kliniken untersagt, heißt es in einem Fachartikel in „Die Hebamme“.

Die Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat 2020 in der „S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin“ den Handgriff geregelt. Der „Fundusdruck“ soll nur im Notfall erwogen werden. Die Bedingungen: Einverständnis inklusive Vetorecht der Frau und kontinuierliche Kommunikation.

Kommunikation entscheidend

Psychotherapeutin Daniela Venturini betreut Frauen, die Geburtstraumata erlitten haben. „Wenn sie (die Gebärende, Anm.) versteht, was genau gemacht wird, die Sinnhaftigkeit erkennt und dabei selbstbestimmt ist, dann kann sie auch große Schmerzen gut integrieren: ‚Ich drück‘ ein bisserl mit’ genügt beim ‚Kristeller-Handgriff‘ nicht als Aufklärung.“ Die möglichen Folgen eines Traumas seien Depression, Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörung. Das beeinflusse auch die Mutter-Kind-Bindung stark, und die wiederum die Entwicklung des Kindes.

Waage für Babies
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Eine Waage für das Neugeborene. Doch bis es so weit ist, ist es für die Mütter oft eine schmerzliche Erfahrung.

„Die Kommunikation mit der Frau während der Geburt bestimmt, ob sie sie gut verarbeiten kann, nicht etwa die Verabreichung von Schmerzmitteln“, schließt Venturini aus ihrer Studie „Kaiserschnitt, vaginale und natürliche Geburt“. Die Verletzlichkeit von Gebärenden kann sie beziffern: „Es gibt bei Frauen zu keinem Zeitpunkt eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine psychische Erkrankung zu erleiden, als im Zeitfenster Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett. Elf Prozent aller Frauen erkranken hier zum ersten Mal in ihrem Leben an Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen.“

Betroffene sprechen von „Tortur“

Andrea Nikowitz brachte ihre Tochter im Oktober 2020 in Wien zur Welt, Veronika Konrad ihren Sohn vor sechs Jahren. Die Geburten erlebten sie als psychische und körperliche Tortur. Nikowitz sagte gegenüber dem ORF, die Sprüche einer Hebamme hätten sie in Panik versetzt. Konrad sagte, sie sei gescholten worden, und es habe ein militärischer Ton geherrscht.

Besonders aber prägte sich bei beiden eine Situation im Kreißsaal während der Presswehen ein. „Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken, man hat meine Beine gehalten und von hinter meinen Kopf mit voller Wucht auf meinen Bauch gedrückt. Ich habe vor Schmerz geschrien, danach war mein Bauch ganz blau.“

Schwerwiegende Folgen

Sowohl bei Nikowitz als auch bei Konrad kam der „Kristeller-Handgriff“ zum Einsatz, laut ihren Angaben ohne Aufklärung. Nikowitz wurde nach der Geburt mit starken Schmerzen entlassen – ein Kreuzbeinbruch, wie sich später herausstellte. Es folgten zahlreiche Arztbesuche, sie litt an Panikattacken und Angstzuständen. Sie rettete sich mit Musikmachen, Fotografieren und einem Achtsamkeitsprogramm zur Traumabewältigung im Internet.

Konrad macht gemeinsam mit ihrem Sohn osteopathische Therapien. Das Geburtstrauma hat sie noch nicht gut verwunden: „Jeder Geburtstag ist ein Jahrestag, an dem alles hochkommt.“

Kliniken entschuldigen sich

Andreas Brandstetter, Leiter der Geburtenabteilung des Krankenhauses St. Josef, in der Nikowitz entbunden hatte, sagte gegenüber dem ORF: „Frau Nikowitz wurde von unserer Hebamme emotional nicht gut abgeholt, und das tut mir einfach leid. Ich kann mich dafür nur entschuldigen.“ Auch die Klinik Hietzing, wo Konrad 2017 ihren Sohn zur Welt gebracht hatte, bat um Entschuldigung. Beide Kliniken gaben an, zum „Kristeller-Handgriff“ habe es keine Alternative gegeben, denn die Geburt habe wegen schlechter Herztöne des Kindes schnell gehen müssen.

Die Gewalterfahrung erzählen

Auf der Homepage von Roses Revolution Österreich finden sich zahlreiche Geschichten – die meisten anonym – von Demütigungen, unangekündigten, schmerzhaften Handgriffen und Machtmissbrauch durch Hebammen und Ärzte und Ärztinnen während der Geburt. Die Gründerin und Hebamme Margarete Wana merkte an, dass das Thema sehr schambesetzt ist. „‚Sei doch glücklich, dass du ein gesundes Kind hast!‘, hören die Frauen oft. Es ist für sie ein wichtiger Schritt, dass man ihnen einmal glaubt.“

Die Wahlhebamme fordert bessere Aufklärung der Patientinnen, mehr Personal in den Krankenhäusern und vor allem gezielte Kommunikationsschulungen in dessen Ausbildung. Und sie will Frauen ermutigen, ihre Erlebnisse zu teilen und auch die Krankenhäuser damit konfrontieren.

Anlaufstellen für Betroffene

Österreichs Geburtenstationen bieten mehrheitlich auch psychologische Betreuung an. Weist das Klinikpersonal nicht von selbst darauf hin, empfiehlt es sich für Mütter und ihre Begleitpersonen, sich danach zu erkundigen. Anlaufstellen können auch Kliniken mit psychiatrischen Abteilungen sein.

Die Kliniken des Wiener Gesundheitsverbunds haben jeweils eigene Ombudsstellen. Rechtlich sollen nach traumatisierenden Geburtserlebnissen die Interessen der Betroffenen von den Patientenanwaltschaften vertreten werden. Es gibt eine in jedem Bundesland, zudem gibt es weitere Anlaufstellen.

In Wien ist das Nanaya – Zentrum für Schwangerschaft, Geburt und Leben mit Kindern ein gemeinnütziger Verein, der sich auch als Anlaufstelle für Hilfe in Krisen etabliert hat. In anderen Bundesländern bietet das Hilfetelefon Gespräche und Vermittlung zu Hilfe in der Umgebung an.

Für schwangere Frauen mit Vorbelastung – sei es durch eine vergangene schwierige Geburt oder durch eine andere soziale, psychische oder medizinische Krise – gibt es in Wien die Möglichkeit einer kostenlosen Schwangerenbetreuung durch eine Hebamme des Hebammenzentrums Wien im Rahmen des „Pilotinnenprojekts“.

Das UNUM Institut ist ein Trauma-und-Schmerz-Kompetenzzentrum, das derzeit Hilfsangebote für belastende Schwangerschaften und Geburten aus verschiedensten Bereichen zu einem österreichweiten Netzwerk „TrauBe“ (für Traumabehandlung) in allen Bundesländern zusammenfassen möchte. „TrauBe“ ist erst im Entstehen, die Kontaktaufnahme ist per Mail an office@unum.institute möglich.

Es gibt die Möglichkeit, sich an Psychotherapeutinnen mit Schwerpunkt Schwangerschaft und Geburt zu wenden. Die Kosten sind jedoch bis auf die von der jeweiligen Krankenkasse bezuschussten Beträge selbst zu tragen.